Title: Prosodie in der Sprache und ihre Bedeutung in der vorschulischen F
1Prosodie in der Sprache und ihre Bedeutung in der
vorschulischen Förderung
- Klaus J. Kohler
- IPDS, Kiel
Vortrag an der Pädagogischen Hochschule
Freiburg 4. November 2008
2Überblick
- Probleme beim Erwerb sprachlicher Fertigkeiten
- Fertigkeiten mündlicher Kommunikation
- Sprechen, Hören, Verstehen
- angepasst an Sprechsituationen
- Fertigkeiten schriftlicher Kommunikation
- Schreiben, Lesen, Verstehen
- Bedeutung der Prosodie
- Prosodische Eigenschaften mündlicher Sprache
- Parameter des Schall- und Sprechrhythmus
- Lesen und Schreiben
- Ausblick Aufgaben vorschulischer Förderung
31 Probleme beim Erwerb sprachlicher
Fertigkeiten
- Jedes Kind wächst in eine Sprachgemeinschaft
hinein und erwirbt deren Kommunikationsmittel
'Sprache' - Linguistik sieht eine Einzelsprache als ein
Gefüge von Systemen auf den Ebenen der
Phonologie, Morphologie, Syntax, Semantik sowie
des Lexikons - die unabhängig vom individuellen
Kommunikationsakt existent sind als sozialer Code
sprachlicher Interaktion - aber dieser Code manifestiert sich in erster
Linie in Akten mündlicher Kommunikation als
Sprechen, Hören und Verstehen
4- deshalb muss das Kind auch die Fertigkeiten des
Kodierens durch Sprechen und des Dekodierens
durch Hören und Verstehen lernen - phonetische Variation in phonologischen
Strukturen - lautliche Artikulation innerhalb weiter Grenzen
- eigentlich /ÈaIgntlIC/
- ÈaIgNlIC
- ÈaI)kHIC
- ÈaINùIC
- ÈaINI
- ÈaIøC
5- prosodische Strukturierung ganzer Äußerungen
- stilistische Anpassung an Kommunikationssituation
zur Erhöhung der kommunikativen Effizienz für den
Hörer - kann gut oder schlecht sein
- ist in öffentlichen Ansagen auf Flughäfen,
Bahnhöfen, in Flugzeugen und Zügen im allgemeinen
schlecht
6- Flug 1711 nach Paris ist nun zum Einsteigen
bereit. Fluggäste der Reihen 15 bis 29 bitten wir
zuerst an Bord. Wir möchten Sie bitten, Ihre
Bordkarten und Ausweise bereit zu halten und Ihre
Mobiltelefone auszuschalten, sobald die
Flugzeugtüren geschlossen sind. Air France Sky
Co-Partner wünscht Ihnen einen angenehmen Fug.
Vielen Dank und auf Wiedersehen.
7- viel zu schnell
- schlecht prosodisch gegliedert
- nicht hörer-orientiert
- nicht angemessen in der Geräuschkulisse einer
Abflughalle - verfehlt das kommunikative Ziel der
Informationsübermittlung - ist Routineansage, die man so schnell wie möglich
hinter sich bringen will
8- Sprechen, das für das Kommunikationsziel in der
jeweiligen Sprechsituation angemessen ist, muss
auf alle Fälle gelernt werden - dazu braucht das Kind spielerisches Training
- umso mehr, je weniger das soziale Umfeld des
Kindes, also insbesondere das Elternhaus, ein
Vorbild für situationsadäquates Sprechen liefert - das Kind muss aber auch lernen, phonetische
Feinheiten auditiv zu erkennen und kognitiv zu
verarbeiten - auch dafür braucht es spielerisches Training
- im Umfang abhängig vom Verhalten des Umfeldes
9- in der Schule müssen Kinder die Fertigkeiten des
Sprechens, Hörens und Verstehens von mündlicher
Sprache ergänzen durch Schreiben, Lesen und
wiederum Verstehen von Schriftsprache - Übergang in das andere Kommunikationsmedium baut
auf den erworbenen Fertigkeiten im mündlichen
Sprachgebrauch auf - ist umso erfolgreicher, je besser das Fundament
der Sprech-, Hör- und Verstehensfertigkeiten ist - das resultierende Problem ist die viel
diskutierte und weitgehend falsch angegangene
Legasthenie
10- an dieser Stelle haben Linguisten und Pädagogen
furchtbar gesündigt - Linguisten durch die Geringschätzung der
sprachlichen Performanz gegenüber der in
linguistischen Systemen verpackten Kompetenz - und durch die Philosophie vom natürlichen
Spracherwerb ohne gezielte Führung - Letzteres passte in das politische Credo, dem
Verhaltenssteuerung, ja selbst soziale Normen
suspekt sind, weil sie als Eingriffe in die
individuelle freiheitliche Entfaltung gelten.
11- Pädagogen haben die systemlinguistische
Begrifflichkeit unreflektiert übernommen - insbesondere das Phonemkonzept
- es dominiert als phonologische Bewusstheit die
Diskussion der Lese-Rechtschreibschwäche - fördert ein phänomenales Verständnis nicht,
sondern verhindert es - ich werde im späteren Teil meines Vortrags darauf
zurückkommen
12- Jetzt möchte ich zunächst festhalten, dass
bezüglich der beiden genannten medialen
sprachlichen Fertigkeiten alle Kultursprachen
Europas (sowie das Englische Nordamerikas)
dieselben Entwicklungstendenzen zeigen - eine hochgradige artikulatorische Nivellierung
und Derhythmisierung in der Sprechweise der
jungen Generation - eine Zunahme der Probleme im Erwerb des Lesens
und Schreibens
13- Meine Hypothese für diesen Vortrag ist
- diese beiden Phänomenbereiche hängen unmittelbar
zusammen - sie sind nur über eine stärkere Berücksichtigung
prosodischer Eigenschaften im gesteuerten
mündlichen und schriftlichen Spracherwerb in den
Griff zu bekommen - Das macht es nun erforderlich, etwas über
Prosodie zu sagen.
142 Prosodische Eigenschaften mündlicher Sprache
- Wortakzent August männl. Vorname, August Monat
- phonologische Markierung einer Silbe im Wort als
die herauszuhebende - hier werden Tonkonturen der Satzakzente
festgemacht - Silbe wird gelängt, am stärksten, wenn keine
Tonverläufe unterstützen, also in monotoner
Sprechweise - nicht alle Sprachen haben solche Wortakzente,
nicht das Französische, aber alle germanischen
Sprachen - z.B. Deutsch
- Polizisten bitte von hinten UMfahren/umFAHren
15UMfahren umFAHren monoton
16UMfahren umFAHren Tonbewegung
17- Satzakzent
- Wörter im Satz erhalten verschiedene Grade der
Prominenz zur Bedeutungsdifferenzierung - in unserem Intonationsmodel KIM unterscheiden wir
4 für das Deutsche default 2 , verstärkt 3,
partiell deakzentuiert 1, voll deakzentuiert
0 - 2Max 0hat 0einen 2Brief 1geschrieben.
- Antwort auf Frage "was hat Max gemacht?"
- 2Max 0hat 0einen 2Brief 0geschrieben.
- Antwort auf Frage "was hat Max geschrieben?" (
einen Brief, keine Postkarte) - 2Max 0hat 0einen 3Brief 0geschrieben.
- kontrastive Emphase auf "Brief"
- 2Max 0hat 0einen 2Brief 3geschrieben.
- kontrastive Emphase auf "geschrieben", vs.
"getippt."
18- verschiedene Wörter können in der Äußerung
emphatisch fokussiert werden - Was willst du denn schon wieder?
-
- Goethe, Faust
- Ich gäb was drum,wenn ich nur wüßt,
- wer heut der Herr gewesen ist.
- Sprechmelodieverlauf
- Ja. Ja? Ja,
- Du. Du? Du, Du!
19- Prosodisch-inhaltliche Gliederung des
Gesprochenen - Schiller, Wilhelm Tell
- Der brave Mann denkt an sich selbst zuletzt.
- ein Melodiebogen vs zwei
- sich (un)akzentuiert
- phrasenfinale Längung
- Unterschied wird in Orthographie durch /- Komma
vor selbst angezeigt
20- Aufruf der SPD zur Landtagswahl in SH Kieler
Nachrichten 12.3.1983 - zwei Wahlen im Abstand einer Woche
- zunächst Wahl zum Deutschen Bundestag, bei der
die Grünen auf Kosten der SPD Stimmengewinne
hatten - dann Wahl zum Schleswig-Holsteinischen Landtag
- die SPD wollte natürlich die schon lange
regierende CDU ablösen - und wollte verhindern, daß die Grünen ihr den
Machtwechsel vermasseln
21(No Transcript)
22(No Transcript)
23- die beiden mündlichen Versionen fordern zum
genauen Gegenteil auf - Version 2 ist selbstverständlich die intendierte
und enthält zwei Aufforderungen - verschenkt Eure Stimme nicht an die Grünen
- wählt SPD
- Version 1 enthält eine Aufforderung und eine
Begründung dafür - wählt nicht SPD
- denn das käme dem Verschenken einer Stimme gleich
24Version 1
25Version 2
26- Diese beiden Versionen sind nach den Regeln der
deutschen Zeichensetzung schriftlich nicht
trennbar.
27- rhythmische Gliederung des Gesprochenen
- neben der prosodisch-inhaltlichen Gliederung gibt
es eine rhythmische - beide können sich überlagern, oder aber die eine
oder die andere gewinnt die Oberhand - Was willst du denn schon wieder?
- neutrale Akzentuierung liefert trochäische
Takt-sequenz mit Auftakt, unabhängig von Melodie - Was willst du denn schon wieder?
28- emphatische Akzentuierung auf willst kann auch
noch trochäische Taktsequenz danach haben, aber
es ist auch starke artikulatorische Reduktion
möglich mit Zerstörung des Rhythmus - Was WILLST du denn schon wieder?
- emphatische Akzentuierung auf du ändert den
Rhythmus, obwohl noch zwei, ungleichmäßige Takte
danach möglich sind, aber starke Reduktion kann
den Rhythmus zerstören - Was willst DU denn schon wieder?
29- emphatische Akzentuierung auf wieder kann auch
noch trochäische Taktsequenz davor haben, aber es
ist auch starke artikulatorische Reduktion
möglich mit Zerstörung des Rhythmus - Was willst du denn schon WIEder?
30- nun ein Beispiel einer perfekten Koordination von
prosodisch-inhaltlicher und rhythmischer
Strukturierung aus dem Kieler Spont Korpus, mit
hoher Verständlichkeit - der Normalfall ist schwache prosodisch-inhaltliche
Markierung und schwache Rhythmik - dadurch Reduktion der Verständlichkeit
- vor allem bei einerseits starker emphatischer
Überhöhung - andererseits starker artikulatorischer Reduktion
31- damit haben wir den Schlüssel zu der eingangs
thematisierten Entwicklungstendenz in der
Sprechweise der jüngeren Generation und ihre
reduzierte Verständlichkeit - prosodisch-inhaltlich schwache Gliederung
- Derhythmisierung
- artikulatorische Nivellierung
- das hat jedoch nichts zu tun mit Standardsprache
vs. Dialekt gute prosodische und rhythmische
Strukturierung findet sich auch im Dialekt
32die Bayern stehn dazu die Schwabe stehn dazu
warum solle mir nit dazu stehe
Wiederkehr von TonhöhenbögenDeklination gt Rhythmus
33- gute oder schlechte Strukturierung wird nun auch
in die Lesesprache übertragen - Ex 1 gute Rhythmizität Kiel Corpus k20nord1
- klare regelmäßige rhythmische Gruppierung
- Ex 2 mediokre Rhythmizität Kiel Corpus k71nord1
- keine klare regelmäßige rhythmische Gruppierung
Deutsche Beisp guter/mediokrer Rhythmizität
34Englische Beisp guter/mediokrer Rhythmizität
- Ex 1 gute Rhythmizität IViE c-rea1-m1
- klare regelmäßige rhythmische Gruppierung
-
- Ex 2 mediokre Rhythmizität IViE c-rea1a-f6
- keine klare regelmäßige rhythmische Gruppierung
353 Parameter des Schall- und Sprechrhythmus
- wiederkehrende Tonhöhenverläufe
- wiederkehrende Dauerstrukturen
- wiederkehrende Lautstärkeverläufe
- sie werden wahrgenommen als Gliederung des
Schalls - erzeugen zu- oder abnehmende Prominenzmuster mit
gewisser Regelmäßigkeit über der Zeit - gilt für komplexe Schallphänomene in Silbenketten
der gesprochenen Sprache genauso wie für ganz
einfache Sinustöne - Letzteres ist in der Psychoakustik seit langem
bekannt
36Gruppierung von Tonsequenzen durch Lautstärke,
Dauer, f0
STIMULUS PERCEPT
Fig. adapted from Handel 1989, p. 387
37Sequenzen von ba-Silben Einzelereignisse,
Trochaeus und Dactylus durch f0
38Sequenzen von ba-Silnen Einzelereignisse, Jambus
und Anapaest durch f0
39Sequenzen von ba-Silben Einzelereignisse,
Trochaeus und Jambus durch Silbendauer, ebenes f0
40Sequenzen von ba-Silben Einzelereignisse,
Trochaeus und Jambus durch Silbenenergie, ebenes
f0
41Sequenzen von bi und ba Silben Gruppierung durch
spektrale Muster, gleiches f0 und Dauer,
ähnliche Energie
42- die zu- und abnehmenden Prominenzmuster in
einfachen Silbensequenzen zeigen dieselbe
Schallgliederung wie sie aus psychoakustischen
Experimenten mit Sinustönen bekannt ist - Rhythmus gesprochener Sprache ist viel komplexer
- komplexere Silbenstrukturen
- Interferenz prosodisch-inhaltlicher Gliederung
- Unflüssigkeiten in der Spontansprache
- unterschiedliche Rhythmizität einzelner Sprecher
- aber immer Kombination der 3 physischen Parameter
zur Erzeugung wiederkehrender Prominenzmuster
über der Zeit zusätzlich Lautqualität (Spektrum)
433 rhythmische Einheiten in g092a021 Kiel Corpus
of SpSp Gruppierung durch f0, Energie und
Spektrum
trifft sich doch eigentlich recht h gut
44- Definition des Sprechrhythmus
- regelmäßige Wiederkehr zu- und abnehmender
Prominenzmuster in Silbenketten über der Zeit - findet sich in stilisiertester Form im Versmaß
- (1) Der jambische Rhythmus, z.B. in Goethes
Harfenspieler - Wer 'nie sein 'Brot mit 'Tränen 'aß,
- Wer 'nie die 'kummer'vollen 'Nächte
- Auf 'seinem 'Bette 'weinend 'saß,
- Der 'kennt euch 'nicht, ihr 'himmlischen
'Mächte. - prosodisch-inhaltliche Gliederung in
Prosa-wiedergabe stört die rhythmische Struktur
45- (2) Der trochäische Rhythmus, z.B. in Goethes
Zauberlehrling - 'Und sie 'laufen! 'Nass und 'nässer
- 'Wirds im 'Saal und 'auf den 'Stufen.
- 'Welch ent'setzlich'es Ge'wässer!
- 'Herr und 'Meister! 'hör mich 'rufen!
- 'Ach, da 'kommt der 'Meister!
- 'Herr, die 'Not ist 'groß!
- 'Die ich 'rief, die 'Geister,
- 'Werd ich 'nun nicht 'los.
- wiederum Störung der rhythmischen Struktur in in
Prosawiedergabe
46- rhythmische Strukturierung ist aber auch fester
Bestandteil der Phraseologie - "Pfeil und Bogen", "bow and arrow"
- "Pride and Prejudice", "Sense and Sensibility"
- "Stolz und Vorurteil", "Gefühl und Verstand"
- "Sinn und Sinnlichkeit" in der Filmversion
- an dieser Stelle zeigt sich nun die Bedeutung von
Kinderversen, Kinderliedern, Sprachspielen
47- Es 'war ein'mal ein 'Mann, der 'hatte 'einen
'Schwamm - 'Lirum 'larum 'Löffel'stiel
- 'Hoppe 'hoppe 'Reiter, 'wenn er 'fällt dann
'schreit er - Der 'Mond ist 'aufge'gangen
- 'Schlafe, 'Kindlein, 'schlafe
- 'Drei Chi'nesen 'mit dem 'Kontra'bass
- 'saßen 'auf der 'Straße 'und er'zählten 'sich was
48- Derartige Verse und Sprachspiele haben eine
enorme Bedeutung für die Sprachentwicklung des
Kindes - sie vermitteln über die regelmäßige rhythmische
Wiederkehr von Prominenzen die Gliederung des
Sprechstroms der Rhythmus hat eine - Führungsfunktion für Wahrnehmen Verstehen
- damit erleichtern sie das Herauslösen von Wörtern
- und über Endreim und initiale Alliteration in
Hebungen des Versmaßes fördern sie ein Gespür für
kleinere Lauteinheiten innerhalb der Wörter - Lirum larum Löffelstiel
- nass Gass kalt Wald
49- daher müssen solche Verse auch eine wichtige
Rolle in der vorschulischen Erziehung spielen - was sie auch in der Vergangenheit in erster Linie
im Elternhaus, aber auch im Kindergarten taten - diese spielerisch gesteuerte Spracherziehung ist
heute jedoch in weiten Schichten unserer
Gesellschaft obsolet, Kindergarten und
Kindertagesstätten bieten keinen Ersatz - damit entwickeln Kinder weithin keine Technik
mehr für lautliche Segmentation und Erkennen von
Gleichheit bzw. Verschiedenheit im Sprechstrom
504 Lesen und Schreiben
- Damit komme ich zum Schrifterwerb
- Alphabetschrift auf lateinischer Basis
- Ziel ist die schriftliche Darstellung von Wörtern
durch eine lineare Abfolge von Zeichen, die sich
auf distinktive lautliche Einheiten beziehen - an dieser Stelle sollte man sich
vergegenwärtigen, wie das Konzept einer
Alphabetschrift in der Menschheitsgeschichte
überhaupt entstanden ist
51- sie wurde nur einmal erfunden
- im semitischen Sprachraum
- alle anderen Alphabetschriften sind Adaptationen
der semitischen Alphabetschrift an die jeweiligen
Sprachsysteme - Devanagari des Sanskrit
- Griechisch
- gt kyrillisch der meisten slawischen Sprachen
- Latein
- gt Deutsch und die meisten europäischen Sprachen
und schließlich weltweit
52- Warum wurde Alphabetschrift nur einmal und
ausgerechnet im semitischen Sprachraum erfunden? - Lautstruktur der Wörter in diesen Sprachen
- der indigene Wortschatz ist so aufgebaut, dass
semantische Felder durch Wurzeln kodiert werden,
die drei Konsonanten in einer bestimmten Abfolge
enthalten - z. B. SCHREIBEN durch k t b im Arabischen
- die einzelnen Wörter eines semantischen Feldes
werden gebildet durch Einfügen von Vokalen und
Präfixen
53- k'atab er schrieb
- y'iktib er schreibt, wird schreiben
- k'aatib Schreiber sg.
- k'ataba Schreiber pl.
- kit'aab Buch
- k'utub Bücher
- makt'uub geschrieben
- m'aktab Büro, Schreibtisch
- makt'aba Bibliothek
54- Damit war eine enge Beziehung zwischen
semantischen Feldern und deren Kodierung durch
Konsonantenartikulationen gegeben. - Diese Beziehung war für die sprachliche
Produktion und ihr Verstehen in den semitischen
Sprachen grundlegend. - Kinder mussten diese Beziehung im Spracherwerb
internalisieren. - Es war dann ein einfacher und naheliegender
Schritt, diese Beziehung im graphischen Bereich
abzubilden, also eine Schrift auf
konsonantischer, d.h. alphabetischer Basis zu
erfinden.
55- Dabei mussten den 3 Elementen einer jeden Wurzel
Zeichen so zugeordnet werden, dass alle Wurzeln
eindeutig abgebildet werden konnten - das führte zu einem Zeichenrepertoire für die
distinktiven Lauteinheiten der Sprache - Vokale /i/, /a/, /u/ und ihre Längen /ii/, /aa/,
/uu/ wurden zunächst nicht symbolisiert, sondern
mussten aus dem Kontext erschlossen werden - später fügte man Diakritika über bzw. unter den
Konsonantenzeichen für die verschiedenen Vokale
bzw. ihr Fehlen hinzu.
56- Keine andere Sprachenfamilie hat eine solche
semantisch-phonetische Struktur des Wortschatzes,
und damit war nirgendwo anders die Kodierung von
Wörtern durch eine Alphabetschrift so naheliegend
und trat deshalb auch nicht als autochthone
Entwicklung ein. - Die indogermanischen Sprachen haben durchaus
eingeschränkt etwas Vergleichbares - Ablaut, z,B. liegen lag gelegen
- nicht als Charakteristikum des gesamten
Wortschatzes, sondern in der Wortbildung und der
Flexion, vor allem im Verb - und hier konnte nicht das stets Gleichbleibende,
sondern nur das Verschiedene fokussiert werden
57- Der Erwerb der Alphabetschrift stellt daher im
Deutschen und anderen Sprachen sehr viel höhere
Anforderungen an das Kind. - Das Kind muss beim Erwerb einer Alphabetschrift 4
Stadien durchlaufen - lautliche Segmentation von Wörtern als
Bestandteil des Spracherwerbs vor Lesen- und
Schreibenlernen, also in der vorschulischen
Erziehung - gestützt durch rhythmische und metrische Mittel
- die zusätzliche Stütze der Sprachstruktur der
semitischen Sprachen entfällt in allen anderen
58- Erlernen der Schriftzeichen
- feine graphische Unterschiede n m u
- Unterschiede in der Position b d p q
- Zuordnung von Schriftzeichen zu Lautsegmenten
- Erwerb der Orthographieregeln
- Auf allen Ebenen gibt es grundsätzlich Probleme.
- Wenn aber das Kind nicht spielerisch segmentieren
gelernt hat, wird es enorme Schwierigkeiten
haben, Schriftzeichen Lauteinheiten zuzuordnen
denn der Laut existiert für ein solches Kind gar
nicht.
59- Die Probleme potenzieren sich beim anschließenden
Erwerb der Orthographieregeln, die generell die
größten Schwierigkeiten bereiten. - Extreme Fälle erwerben keine Alphabetschrift mehr
- sondern einen konfusen Zeichenapparat für
gesprochene Wörter - was pädagogisch als Lese-Rechtschreibschwäche
oder in medizinischer Terminologie als
Legasthenie eingeordnet wird - diese Begrifflichkeit ist ein Sammelbecken für
ein weites Spektrum von Fehlleistungen im
Schrifterwerb
60- Die erziehungspolitisch aufgeladene Diskussion
darüber trägt nicht zur Aufhellung der Phänomene
bei - einerseits werden die Defizite als Syndrom einer
Entwicklungsstörung bei gleichzeitig normalem IQ
gesehen - ohne die vorschulische Vorbereitung und die
schulischen Verfahren des Schrifterwerbs zusammen
zu evaluieren - andererseits haben die Experten selbst keinen
klaren Durchblick hinsichtlich der Bedingungen
des mündlichen und schriftlichen Spracherwerbs
61- Das wird offensichtlich, wenn man sich die
entwickelten Tests näher anschaut - z.B. Claudia Stock, Peter Marx, Wolfgang
Schneider, BAKO 1-4 Basiskompetenzen für
Lese-Rechtschreib-leistungen Ein Test zur
Erfassung der phonologischen Bewusstheit vom
ersten bis vierten Grundschuljahr - Es geht darin um das "Konstrukt 'phonologische
Bewusstheit im engeren Sinne' als Fähigkeit,
explizit mit sprachlichen Strukturen operieren zu
können, die weder semantische noch
sprechrhythmische Bezüge aufweisen" (p.37) - die Ausarbeitung von Teilaufgaben auf dieser
Basis.
62- Das Konzept phonologische Bewusstheit nimmt an
- Kinder haben bis zum Eintritt in die Schule in
ihrer natürlichen Sprachentwicklung das
phonologische System, d.h. die Phoneme einer
Sprache erworben - es geht im Lese- und Schreibunterricht nun darum,
dieses der Sprache des Kindes zugrunde liegende
System bewusst zu machen
63- Das ist systemlinguistisch gedacht, aber keine
Realität - das Phonem ist ein metasprachliches Konstrukt
- es ist weder im Sprechen noch im Sprachverstehen
existent - nehmen wir die Äußerung
- Das ist eigentlich ganz guter Wein
- Èa)I)j)
- Èa)I)
64- sie ist verschieden vom unbestimmten Artikel in
- Das ist ein ganz guter Wein.
- in ein tendiert der Vokal zur Reduktion in
spektraler Dynamik und Dauer bis hin zu Elision - der Nasal wird ortsassimiliert an folgenden Kons
- in eigentlich langes palatales Residuum in Artik.
- Èa)I)j) Èa)I) Èa)e)N
65 Èa)I)j)gans Èa)I)gans
Èa)e)Ngans
- Èa)I) Èa)e)N
- Dauer Wörter 197 188ms, Vokale 197 129 ms
g 79 18 ms - Formantende F1 262 391 F2 1984 1876 F3
3594 3520 Hz - mehr/weniger palatal, in Spektrum und Timing
Perzeptionsests - größere Kohäsion Artikel mit Folgewort kürzerer
initialer Kons
66- Sie haben die Wörter eigentlich und ein nicht als
Phonemsequenzen wahrgenommen - /aIgntlIC/ vs. /aIn/
- sondern infolge feiner phonetischer Unterschiede,
die sich über eine Lautsequenz aIn legen - und ich habe nicht die Phonemsequenzen
intendiert, sondern die Wörter in einer
kontextuellen Realisierung
67- Wenn aber ein Phonemsystem für das Kind nicht
existent ist, kann man es auch nicht bewusst
machen - Deshalb sind die Übungstypen, die auf der Basis
dieses Konzeptes entwickelt wurden, nicht nur
nicht nützlich, sondern geradezu schädlich - Pseudowortsegmentierung skop, askletno
- Restwortbestimmung Ende gt nde, omta gt mta
- Phonemvertauschung Masse gt amsse, ilma gt lima
- Wortumkehr ral gt lar, Boot gt toob
68- Hier sind Erwachsene am Werk
- die die Alphabetschrift beherrschen
- aus ihr eine Phonemsequenz ableiten
- und meinen, die Kinder könnten den umgekehrten
Weg gehen. - Das können sie aber nicht
- weil das Phonem keine Basis ist
- weil sie Segmentieren erst mühsam lernen müssen
- weil phonetische Unterschiede zwischen Wörtern
spielerisch in semantischer und rhythmischer
Einbettung erfassbar gemacht werden müssen.
69- das Segment/Laut/Phonemkonzept in der
Unterrichtspraxis des Lesenlernens fördert - lautierendes, statt flüssiges Vorlesen
- und stört schnelles stilles Lesen und
Textverstehen - das lässt sich nur korrigieren durch Einbeziehen
größerer Spracheinheiten als Einzellaute - Silbe
- längere prosodische Einheiten
- unter Berücksichtigung von Reim und Anlaut
- so wie Frau Röber das praktiziert
705 Ausblick
- Die Diskussion um die Lese-Rechtschreibschwäche
hat die verschiedenen Ebenen vermengt und vor
allem die grundlegenden Beziehungen zwischen Laut
und Alphabetschrift und deren Erwerb überhaupt
nicht durchschaut. - Hier kann nur helfen, das versäumte spielerische
Lauttraining durch rhythmische Strukturierung in
der Grundschule nachzuholen und dabei
Strukturphänomene z.B. des Ablauts einzubeziehen
71- Aber auf längere Sicht muss die vorschulische
Erziehung wieder aktiviert werden - wenn es das Elternhaus in Doppelverdiener-haushalt
en ohne Großeltern nicht mehr leisten kann - müssen Kindergärten und Kindertagesstätten
einspringen, mit wesentlich besser ausgebildetem
Personal, als es heute zur Verfügung steht. - Es ist ein Nachdenken hinsichtlich der Aufgaben
der vorschulischen Erziehung notwendig, damit wir
gewährleisten, dass die nachwachsenden
Generationen mündliche und schriftliche
Kommunikation in ihrer Sprachgemeinschaft
angemessen beherrschen lernen.
72- Ein weiteres Problem, das ich zum Schluss noch
kurz anreißen möchte, ist die Diskrepanz zwischen
der Sprechweise des Kindes und dem Standardmodell
der Sprache, auf dem die Verschriftung beruht. - Standardisierte Tests gehen von kodifizierter
Standardlautung aus - setzen Spaß, Bad, Rad mit langem Vokal an
- der Mannheimer, Karlsruher, Freiburger oder
Schwarzwälder Schüler spricht aber (im Dialekt)
Spaß mit kurzem Vokal und kann deshalb nicht
verstehen, warum er nicht Spass schreiben darf
73- umgekehrt sprechen norddeutsche Schüler eher
Kurzvokal in Bad und Rad und machen in Aufgaben
zur Vokallängenbestimmung (z.B. in BAKO1-4)
Fehler, die nur durch den Testansatz bedingt
sind, obwohl sie ihre eigene Sprechweise völlig
richtig kategorisieren können - alemannische und schwäbische Schüler können sich
fragen, warum zwei und drei mit gleichen
Vokalzeichen geschrieben werden , obgleich sie
nicht gut reimen tsvAùe vs. drae - oder heben heùb vs.leben lEùb
- stecken Stek vs. Stecken StEk
74- Und wir dürfen natürlich nicht das Problem der
Migrantenkinder vergessen, die weitgehend das
Deutsche nicht auf dem Niveau der Schulanfänger
beherrschen und möglicherweise nicht einmal in
ihrer zunächst gelernten Sprache firm sind - die also zwischen den Sprachen hängen
- aber auch zwischen den Gesellschaften
- hier kommen zu den Problemen der Segmentation,
der Laut-Schriftzeichen-Zuordnung und der
Orthographieregeln noch die sprachlichen
Interferenzen hinzu
75- diesen Kindern können unsere derzeitigen
Unterrichtsverfahren nicht gerecht werden - und wenn ihnen die gesellschaftliche Integration
mit dem deutschen Umfeld nicht gelingt, werden
sie sprech- und schriftsprachlich Problemfälle
bleiben. - Wir müssen uns also um die Sprach- und
Sprech-erziehung in unserem gesamten
Erziehungssystem gehörig Gedanken machen, um
junge Menschen besser auf das Agieren in unserer
Gesellschaft vorzubereiten, wo mündliche und
schriftliche Sprachkompetenz unabdingbare
Schlüsselfertigkeiten sind. - Dabei ist phonetisches Wissen über Sprech- und
Schrift-erwerb bei den Lehrkräften unbedingt
erforderlich.
76Ich hoffe, dass Sie durch diesen Vortrag einige
Anregungen bekommen haben
und bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.